Der Weg, den du nicht gehst
Weise Menschen behaupten, der spirituelle Weg sei nicht linear, daher gäbe es auch keinen (messbaren) spirituellen Fortschritt. Andere weise Menschen behaupten, es gäbe überhaupt keinen Weg, und trotzdem müsse man ihn gehen. Wieder andere behaupten, die Erleuchtung – das Ziel unserer spirituellen Reise – würde vor unserer Nasenspitze liegen, nur leider würden wir ständig anderswo danach suchen.
Wirklich weise – oder spirituell fortgeschrittene – Menschen würden sich vermutlich über meinen Versuch, spirituellen Fortschritt in Worte zu fassen, köstlich amüsieren. Aber da ich spirituell ziemlich weit fortgeschritten bin (*) ist mir das egal, und ich teile freimütig die Erfahrungen, die ich auf meinem Nicht-Weg gemacht habe.
Also. Woran erkennst du, dass du wichtige Schritte auf dem spirituellen Pfad gemacht hast?
1) Du hast aufgehört, spirituell sein zu wollen.
“Wir sind keine Menschen, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die erfahren, Mensch zu sein.“ ~ Pierre Teilhard de Chardin
Diese Wahrheit hast du gut integriert. Zu behaupten, du seist ja sooo ein spiritueller Mensch, und dir dabei besonders besonders vorzukommen, wird dir zunehmend peinlich.
2) Du fühlst dich gleicher, wirst bescheidener.
In der Anfangseuphorie deiner ersten spirituellen Höhenflüge hast du vielleicht mit einem herablassenden inneren Lächeln auf Menschen geblickt, die sich immer noch um weltliche Dinge Sorgen machen, sich immer noch in Beziehungen verstricken oder immer noch unter körperlichen oder seelischen Krankheiten leiden. Mittlerweile bist du entweder unsanft von deinem hohen Ross gestoßen worden, oder aufgrund einer inneren Erkenntnis sanft aus dem Sattel gestiegen. So oder so: Du bist froh drum. Denn dort oben war die Luft ziiieeemlich dünn, und du warst ziiiieeeemlich einsam.
3)Du wirst humorvoller.
Du hörst auf, dich selbst allzu ernst zu nehmen – vor allem das, was du denkst. Du beobachtest liebevoll deinen monkeymind und glaubst nichts von dem, was er dir erzählt.
“Da alles weiter nichts ist, als es ist, kann man ruhig in Gelächter ausbrechen.” ~ Long Chen Pa
„A happy person carries his temple around him.“ ~ Osho
Du erkennst, dass man über alles lachen kann und darf. (**) Wie befreiend.
4) Du umarmst den Schmerz, der oftmals vor dem Lachen kommt.
Du lernst den Schmerz als Freund und inneren Führer zu schätzen. Du lernst, ihn nicht nur anzunehmen, sondern sogar zu umarmen.
“Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.” ~ David Steindl-Rast
5) Du wirst geduldiger.
In der buddhistischen Tradition, in der ich „sozialisiert“ wurde, hieß es, die dort praktizierte Meditationsform sei das Flugzeug auf dem Weg zur Erleuchtung. Andere mochten das Auto benutzen oder zu Fuß gehen – hier habe man den Turbo im Gepäck. Das hat mir anfangs gefallen. Bis ich gemerkt habe, dass ich tatsächlich „abgehoben“ hatte. Nun gehe ich lieber wieder zu Fuß – langsam, mit Umwegen und Pausen – und genieße erstens die nette Gesellschaft auf diesem Pilgerpfad und zweitens die hübschen Blumen, die links und rechts des Weges wachsen. Um ehrlich zu sein: Ich will gar nicht mehr unbedingt erleuchtet werden. Ein bisschen innerer Frieden hin und wieder ist Lohn genug für mein Bemühen.
6) Die Welt wird dir wieder wichtiger.
In der indischen Mythologie wird die große Illusion, die die Welt der äußeren Erscheinungen als real ansieht, als Maya bezeichnet. Um Moksha (Erlösung) zu erlangen, muss man Maya überwinden.
Vielleicht hast du eine Phase erlebt, in der du dich über alles Irdische erheben wolltest, weil du es als Illusion erkannt hast. Vielleicht hast du in dieser Phase aufgehört, dir über Geld Gedanken zu machen, über deine Wohnzimmer-Einrichtung oder über deine Gesundenuntersuchung. Aber vielleicht hat dich dann irgendwann die Realität, die es ja gar nicht gibt, eingeholt – das Konto war leer, die Leberwerte schlecht, und die aufkeimenden Ängste fühlten sich plötzlich wieder sehr real an.
Inzwischen hast du erkannt, dass Maya und Moksha nur zwei Seiten einer Medaille sind, und dass nichts Unspirituelles an finanzieller Sicherheit, einem stilvoll eingerichteten Zuhause und einem vernünftigen Maß an Gesundheitsvorsorge ist. Ich zitiere einen meiner spirituellen Lehrer: Wenn wir schon irgendwann aus diesem Traum aufwachen müssen, dann lieber aus einem schönen als aus einem Alptraum.
7) Du versuchst nicht mehr, an spirituellen Errungenschaften festzuhalten.
Spirituelle Durchbrüche setzen oft unglaublich viel Energie frei. Du machst einen Sprung auf ein höheres Level – und glaubst, nun dort bleiben zu dürfen. Weit gefehlt. Nachdem du kurz den Ausblick und die Weite dort oben genossen hast, musst du wieder hinab in den Nebel der Niederungen. Immerhin weißt du aber bereits:
8 ) Du riechst Ego-Spielchen 100 Meter gegen den Wind.
Alles, was sich nach „unbedingt“ anfühlt oder nach „Entweder – Oder“, nach Enge oder Verbissenheit, nach Verstrickung oder Festhaltenwollen, erkennst du immer schneller als den erbitterten Kampf des Ego um seine Existenz – und zwar sowohl bei dir selbst als auch bei anderen.
9) Du riechst Ego-Spielchen 100 Meter gegen den Wind, aber du lässt das Ego weiter spielen.
Du hast erkannt, dass gegen das Ego anzukämpfen nichts bringt. Da es ohnehin eine Illusion ist (Maya!), stärkst du es nur, indem du versuchst, es zu unterdrücken. Ich zitiere wiederum sinngemäß einen meiner Lehrer: Leg das Ego in die Hängematte, streichle und wiege es so lange, bis es sich entspannt. Das ist der beste Weg, um dich aus seinen Krallen zu lösen.
10) Apropos lösen: Du löst dich von Begriffen, institutionalisierter Spiritualität und äußerer Disziplin.
Das Selbst, das Ego, das höhere Selbst, das Ich, das wahre Ich, die Erleuchtung, Samadhi, der achtfache Pfad, der Weg der Mitte, Gott, das Göttliche, der Kosmos, … Begriffe können wunderbar von dem ablenken, worum es wirklich geht. Du kennst die Geschichte vom Finger, der auf den Mond zeigt. Ihn mit dem Mond zu verwechseln ist menschlich, aber ein bisschen töricht. Die Identifikation mit spirituellen Schulen, LehrerInnen und Übungen auch. Genauso wie die Disziplin in der spirituellen Praxis, solange sie sich noch an äußeren Dingen festmacht: Ich MUSS zweimal täglich zwanzig Minuten meditieren, sonst a) geht die Welt unter, oder b) gerät mein Selbstbild ins Wanken oder c) bekomme ich Schuldgefühle und/oder Angst vor karmischen Auswirkungen. (Wohl im letzten Leben nicht genug meditiert, hä? Na dann – ab in die nächste Runde… )
11) Du wirst disziplinierter.
Ja, deine Disziplin schrumpft – und gleichzeitig wächst sie, verändert sich, verlagert sich von außen nach innen, spielt sich zunehmend auch jenseits des Meditationskissen oder der Yogamatte ab. Du übst Achtsamkeit im Alltag, betreibst konsequente Gedankenhygiene, und gerätst über immer längere Phasen in einen Zustand des „inner retreats“, auch wenn du gerade nicht im Sesshin, im Kloster oder beim Pilgern bist, sondern versuchst, in den Stromschnellen des Alltagswahnsinn einigermaßen den Kopf über Wasser zu halten.
Soweit, lieber Mensch vor dem Bildschirm oder Smartphone-Display, die Erkenntnisse einer aufrichtig bemühten Wandlerin auf nicht vorhandenen spirituellen Pfaden. Sie freut sich, wenn du DEINE Erkenntnisse mit ihr teilen magst.
(*) Liebe Leserin, lieber Leser, das war ein Witz. Je nach deiner spirituellen Fortgeschrittenheit hast du das natürlich sofort erkannt.
(**) Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass man einen lustigen Film über die Gräuel des KZ drehen kann, ohne die Opfer ihrer Würde zu berauben? “La vita e bella” hat gezeigt – es geht. Ich nehme an, dass dies unter anderem durch den zeitlichen Abstand möglich wurde. Wie Woody Allen angeblich einmal sagte: Komödie = Tragödie + Abstand
Falls du kluge Gedanken über die “Schatten auf dem Pfad” lesen möchtest, dann empfehle ich dir das gleichnamige Buch von Abdi Assadi.
Big, wild love
Laya
PS: Kennst du schon den Persönlichkeits-Test "Was blockiert dich?" Er hilft dir, herauszufinden, was dich blockiert, und wie du mithilfe der Psychologie der Chakras deine Blockaden lösen kannst!
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